S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung

Handreichung zur Arbeit mit intergeschlechtlichen Personen auf der Grundlage der S2K Leitlinie, die im November 2024 veröffentlicht wurde. Diese Handreichung dient zur Erleichterung der Arbeit und ist eine sinnvolle Zusammenfassung. Es wird nicht der Originaltext der Leitlinie verwendet.

Handreichung zu S2k-Leitlinie trans Kinder und Jugendliche 2025
Handreichung zu S3-Leitlinie zur Trans-Gesundheit 2018
Handreichung zu S2k-Leitlinie Varianten der Geschlechtsentwicklung 2024

Grundsätze

  1. Die Geschlechtsidentität im Erwachsenenalter ist bei Menschen mit DSD nicht sicher vorhersagbar, und es gibt Personen, bei denen das körperliche Geschlecht und die Geschlechtsidentität nicht übereinstimmen (S. 35).
  2. Menschen mit unterschiedlichen DSD-Diagnosen können sich weder eindeutig als Mann noch eindeutig als Frau erleben, sondern dazwischen, ein sogenanntes non-binäres Erleben.
  3. Zur Entscheidung für ein Erziehungsgeschlecht (soziales Geschlecht) und den Personenstand (rechtliches Geschlecht) bedarf es keiner medikamentösen und/oder chirurgischen Eingriffe (S. 35)
  4. Das „Geschlecht“ als psychosoziales Konstrukt ist chirurgisch nicht veränderbar (S. 46).
  5. Es gilt zuvorderst das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung und das Offenhalten der geschlechtlichen Zukunft.
  6. Bei einem Kind mit vermuteter DSD (bereits pränatal oder postnatal) soll eine kompetente und mit der Thematik vertraute psychologische Begleitung der Familie angestrebt werden.
  7. Bei nachgewiesener DSD soll eine Peer-Beratung hinzukommen.
  8. Bestätigt sich eine Form von DSD, soll eine psychologische Begleitung auch während der weiteren Entwicklung, bei Bedarf bis ins Erwachsenenalter angeboten werden
  9. Bei DSD soll den Betroffenen (bei Einsichtsfähigkeit), den Eltern und bei Einwilligung der Betroffenen bzw. ihrer Stellvertreter weiteren Verwandten eine genetische Beratung, die nicht-direktiv zu erfolgen hat, angeboten werden (S. 29).
  10. Eltern/ Sorgeberechtigte sollen darauf hingewiesen werden, dass die Geschlechtsidentität (i.S. des subjektiven Geschlechtserlebens) ihres Kindes wie in der Allgemeinbevölkerung nicht sicher vorhergesagt werden kann (S. 34).
  11. Eltern/ Sorgeberechtigte sollen darin bestärkt werden, ihr Kind bei seiner individuellen subjektiv erlebten Geschlechtsentwicklung zu unterstützen.
  12. Aufklärung über erhobene Befunde und sich daraus ergebende Empfehlungen in
    ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit haben Vorrang gegenüber der Herstellung einer „eindeutigen“ Anatomie und einer eindeutigen männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität. Inwieweit eine medizinische Notwendigkeit für körperliche Eingriffe besteht, ist zu hinterfragen (S. 39).

Leitsymptome

  1. Besonderheit der Genitalentwicklung
  2. Diskrepanz zwischen pränatal erhobenem Karyotyp und Genitalbefund  
  3. primär weiblich geprägter Phänotyp mit pubertärer Virilisierung und/oder primärer Amenorrhoe und/oder ausbleibendem Brustwachstum
  4. primär männlich geprägter Phänotyp mit pubertärer Hypovirilisierung und/oder Brustentwicklung
  5. anderer Vorstellungsgrund

Diagnostik

Die Diagnostik und die Planung der Versorgung sollen in oder in enger Zusammenarbeit mit einem Kompetenzzentrum für DSD erfolgen. Ein Kompetenzzentrum DSD soll dabei die Anforderungen für ein B-Zentrum für Seltene Erkrankungen nach den Vorgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses erfüllen und zudem die speziellen Kriterien, die in DSDCare* festgelegt wurden.

Die Diagnosemitteilung und Beratung zum weiteren Vorgehen (inkl. möglicher Behandlungsplanung) sollen in einem Kompetenzzentrum interdisziplinär mit Vertretern aller beteiligten medizinischen und psychosozialen Fachbereiche erfolgen.

Über eine qualifizierte Peerberatung und den Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe soll detailliert informiert werden. Auf Wunsch soll ein Kontakt vermittelt werden.

Es soll für die spezifische Diagnose mitgeteilt werden, wie die wahrscheinliche Entwicklung verlaufen kann und welche Unsicherheiten in Bezug auf die körperlichen Veränderungen und die geschlechtliche Selbstwahrnehmung bestehen.

Die klinische Untersuchung der äußeren Geschlechtsorgane soll standardisiert erfolgen und strukturiert dokumentiert werden. Klinische Untersuchungen des äußeren Genitale sollen im Vorfeld mit Betroffenen und Eltern besprochen und immer angekündigt werden.

Invasive Untersuchungen sollen in der Primärdiagnostik nur dann eingesetzt werden, wenn dadurch wesentliche Erkenntnisse gewonnen werden können, die mit nicht-invasiven Methoden nicht festgestellt werden können, und die zu diesem Zeitpunkt für das weitere Vorgehen von Bedeutung sind (S. 29).

Ist eine indikationsbezogene Fotodokumentation vorgesehen, soll diese im Vorfeld besprochen und eine Einwilligung eingeholt werden.

Den Eltern/Sorgeberechtigten bzw. den Betroffenen sind Kopien von Befunden, „Gesprächsprotokollen“ und Aufklärungen zu relevanten diagnostischen/therapeutischen Maßnahmen auszuhändigen, ohne dass diese dazu auffordern.

Alle schriftlichen und Bild-dokumentierten Befunde sollen mindestens 30 Jahre aufbewahrt werden. Im Falle einer OP vor dem vollendeten 18. Lebensjahr sind diese bis zur Vollendung des 48. Lebensjahres der Behandelten aufzubewahren.

Familien und Betroffenen soll frühzeitig angeraten werden, eine eigene Dokumentation (Befundordner in digitaler oder Papierform) anzulegen. Alle Befunde sollen immer auch den Patienten zur Verfügung gestellt werden.

Eine Computertomografie (CT) oder eine intravenöse Ausscheidungsurografie (AUG) sollen nicht durchgeführt werden.

Bei vermuteter DSD soll neben einer strukturierten klinischen und sonographischen
Charakterisierung des somatischen Phänotyps und neben einer ggf. bereits parallel veranlassten zytogenetischen Diagnostik (Chromosomenanalyse) und molekularen Diagnostik (siehe Kapitel „Genetische Diagnostik“) unmittelbar eine differenzierte hormonelle Diagnostik erfolgen.

Wenn möglich, sollen Serum und Urin für weiterführende Hormonanalysen asserviert werden. Hierfür ist eine Einwilligung erforderlich (S. 35).

Therapie

Eltern bzw. das Kind sind entsprechend seiner Einsichtsfähigkeit kompetent zu beraten. Ein ganzheitliches Behandlungskonzept ist zu entwickeln.

Es sollen mehrere Gespräche erfolgen, bis die Eltern/ Sorgeberechtigten bzw. die Betroffenen die Gesamtsituation erfasst haben. Vorher sollen keine therapeutischen Entscheidungen getroffen werden.

Behandlung ohne Zustimmung von Eltern und Kind ist nicht zulässig.

Die Bedarfe in der medikamentösen Therapie von Menschen mit einer DSD-Diagnose sind entsprechend der vielfältigen Diagnosen sehr unterschiedlich und können sich über die Lebensspanne ändern. Eine regelmäßige Überwachung der Hormonsynthese ist auch nach initialer Diagnostik notwendig, um eine notwendige Hormonersatztherapie entsprechend einleiten zu können (S. 27).

Ziele einer Beratung sind das Verständnis für die Diagnose, den mutmaßlichen Verlauf und die zur Verfügung stehende Behandlung sowie die Abschätzung der Wiederholungswahrscheinlichkeit.

Ein ganzheitlicher Behandlungsansatz soll die Betroffenen mit DSD in die Entscheidungsfindung in einem multiprofessionellen Team unter Beteiligung einer psychosozialen Fachkraft einbeziehen.

Ziel eines ganzheitlichen Behandlungsansatzes ist es, Betroffene mit DSD darin zu unterstützen, eine möglichst gute Lebensqualität, Wohlbefinden und Akzeptanz des eigenen Körpers zu erreichen sowie das Entwicklungspotential der Genitalorgane und Gonaden zu berücksichtigen.

Die geschlechtliche Selbstbestimmung ist zu schützen.

Die Entscheidung für eine soziale Geschlechtsrolle ist nicht an medizinische Entscheidungen gekoppelt.

Ziele der Behandlung (S. 30)

  1. Selbstbestimmung
  2. Wahrung der körperlichen Integrität
  3. Körperliches und seelisches Wohlbefindens des Kindes/Jugendlichen und späteren Erwachsenen mit DSD
  4. Höchstmögliche Lebensqualität
  5. Beachtung reproduktiver Aspekte, der Sexualität sowie der
  6. Maximal mögliche Freiheit der Persönlichkeitsentwicklung
  7. Familiäre und soziologische Fundamente berücksichtigen
  8. Entwicklung einer optimalen Eltern-Kind-Beziehung

Selbstbestimmung (S. 33)

Das von Verfassungsgericht garantierte Recht des zunächst noch nicht-selbstbestimmungsfähigen Kindes auf Partizipation an der Entscheidung und die Pflichten und Rechte der Eltern/Sorgeberechtigten, im Sinne ihres Kindes zu handeln, sollen in einem ganzheitlichen Behandlungsansatz beachtet werden.

Die Eltern/ Sorgeberechtigten sollen in dem Gesamtprozess darin unterstützt werden, ihr Kind als einzigartiges Individuum zu akzeptieren und in diesem Bewusstsein in seinem Interesse zu handeln.

Es ist von Behandlern und Eltern zu berücksichtigen, dass die Interessen der Eltern und des Kindes nicht immer vollständig übereinstimmen

Mit zunehmender Einsichtsfähigkeit soll das Kind altersgemäß, retro- und prospektiv, über seine individuelle somatische/körperliche Situation durch das interdisziplinäre Team unter Beteiligung einer psychosozialen Fachkraft aufgeklärt werden und frühstmöglich in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Ein Kontakt zu einer Peergruppe bzw. spezielle Schulungsangebote sollen angeboten werden.

Es gilt der Shared-Decision-Ansatz, der die Interessen des Kindes am besten in einem pädiatrischen Kontext berücksichtigt

Geschlechtsrollenwechsel (S. 35)

Ein therapeutischer Prozess kann dabei unterstützen, ein individuelles Verständnis über sich selbst i. S. einer individuellen Identität in Bezug auf die geschlechtsbezogenen Aspekte der Identität zu entwickeln.

Es kann zu einem sozialen Geschlechtsrollenwechsel kommen, wenn das Erleben (i.S. der Geschlechtsidentität) nicht mit der zunächst getroffenen Geschlechtsrollenwahl / dem
Erziehungsgeschlecht übereinstimmt.

Der Geschlechtsrollenwechsel kann Ausdruck einer individuellen Weiterentwicklung sein.

Hormonersatztherapie (S. 41)

Die Indikation für die Hormonersatztherapie mit Sexualhormonen soll geprüft werden, wenn die eigenen Gonaden keine oder ungenügend Hormone produzieren oder die Gonaden entfernt wurden.

Die Wahl der Hormon(ersatz)therapie mit Sexualhormonen soll individuell nach gründlicher Aufklärung der betroffenen Person erfolgen. Es soll ausführlich über Wirkungen und Nebenwirkungen einer Hormonersatztherapie aber auch über
die verschiedenen Optionen (Art des Sexualhormons und Applikationsform) schriftlich aufgeklärt werden.

Eine Begleittherapie oder Fristen sind nicht notwendig. Die Pubertätsinduktion soll individuell im physiologischen Pubertätsalter erfolgen. Der Zeitpunkt des Beginns und die Art einer notwendigen Hormonersatztherapie nach spontan stattgefundener Pubertätsentwicklung sollen individuell gewählt werden.

Kommt es zu Beginn der Pubertätsentwicklung durch die körpereigene Produktion von
Sexualhormonen zu einer diskordanten Entwicklung von Phänotyp und der gewünschten
Geschlechtsentwicklung, sollte die Möglichkeit einer GnRH-Analoga-Therapie mit den Jugendlichen zur passageren Blockade der endogenen Pubertätsentwicklung diskutiert werden.

Bei Minderjährigen ist eine schriftliche Aufklärung der Erziehungsberechtigen und gemeinsame Abwägung der gewählten Therapie notwendig.

Die Hormonersatztherapie sollte bei einer Therapie mit Östrogenen mindestens bis zum mittleren Menopausealter (51-52 Jahre) erfolgen, bei einer Therapie mit Testosteron lebenslang. Die kontinuierliche Therapie wird empfohlen.

Operationen

Beim nicht-einwilligungsfähigen Kind dürfen entsprechend des 05/2021 verabschiedeten Gesetzes zum Schutz von Kindern vor geschlechtsmodifizierenden Maßnahmen im nicht-einwilligungsfähigen Alter (BGB § 1631e) keine Behandlungen allein in der Absicht erfolgen, das körperliche Erscheinungsbild des Kindes an das des männlichen oder weiblichen Geschlechts anzugleichen. Ausgenommen sind Eingriffe, bei deren Unterlassen eine Gefahr für Gesundheit und Leben des Kindes entstehen würde.

Wird von den Sorgeberechtigten dennoch ein Eingriff bei ihrem Kind gewünscht, bedarf es entsprechend des o.g. Gesetzes der Genehmigung durch das Familiengericht.

Die Genehmigung ist auf Antrag der Eltern zu erteilen, wenn der geplante Eingriff dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Legen die Eltern dem Familiengericht eine den Eingriff befürwortende Stellungnahme einer interdisziplinären Kommission vor, wird vermutet, dass der geplante Eingriff dem Wohl des Kindes am besten entspricht.

Wenn operative Maßnahmen erfolgen, sollen diese nur durch qualifizierte Operateure durchgeführt werden, die mit einem Kompetenzzentrum zusammenarbeiten.

Operationen, deren Komplikationen und Langzeitergebnisse sollen in Registern erfasst werden.

Die Betroffenen sollen darauf hingewiesen werden, dass nach der Vaginalplastik Verengungen in der Vagina auftreten können, insbesondere an der Stelle, wo oberer und neu gebildeter unterer Vaginalanteil aneinandergenäht wurden, und dass daher eine Eigen-Bougierung sinnvoll ist.

Eine vaginale Bougierung bei Kindern mit DSD durch die behandelnden Ärzte oder die Eltern soll auf keinen Fall erfolgen.

Die Operation soll erst durchgeführt werden, wenn Betroffene eine ausreichende physische und psychische Reife erreicht haben und bereit sind, die postoperative Nachbehandlung konsequent durchzuführen.

Fertilitätsprotektion (S. 83)

Die Beratung über Konzepte zum Erhalt der Fertilität soll unter der Maßgabe stattfinden, Eingriffe bis zur eigenständigen Zustimmungsfähigkeit der Betroffenen auf ein minimales Maß zu reduzieren, gleichzeitig jedoch die Option zur Erfüllung eines möglichen späteren Kinderwunsches zu erhalten.

Die Beratung über Konzepte zum Erhalt der Fertilität soll unter der Maßgabe stattfinden, Eingriffe bis zur eigenständigen Zustimmungsfähigkeit der Betroffenen auf ein minimales Maß zu reduzieren, gleichzeitig jedoch die Option zur Erfüllung eines möglichen späteren Kinderwunsches zu erhalten.

https://register.awmf.org/assets/guidelines/174-001l_S2k_KF_Varianten-der-Geschlechtsentwicklung_2024-11.pdf

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