Für einen Paradigmenwechsel in der trans Therapie

Das System der Zweigeschlechtlichkeit spielt im Zusammenhang mit trans Geschlechtlichkeit eine wesentliche Rolle, wenn es um körpermodifizierende und kassenfinanzierte Behandlungen geht. Das Bundesverfassungsgericht 2017 [1], als auch der Bundesgerichtshof 2020 [2] haben deutliche Entscheidungen für die Mehrgeschlechtlichkeit von Menschen getroffen. Entgegen dieser klaren Rechtssprechung, haben sich die gesetzlichen Krankenkassen in ihrer Begutachtungsanleitung aus dem Jahr 2020 (3) für den Ausschluss von nicht-binären Geschlechtern entschieden. Es muss deshalb bezweifelt werden, dass die mds-Richtlinie rechtskonform ist.

Es gibt in dem grundsätzlichen Umgang mit trans Geschlechtlichkeit die Idee vom „Geschlechtswechsel“. Zwingende Folge ist das Dogma einer Transition. Es ist nicht nur der Wunsch vieler Menschen, die nach Hilfe suchen, es ist gleichzeitig eine Erwartungshaltung. Das beeinflusst die Behandlungsansätze und den Begutachtungsprozess. Es impliziert Ansprüche bei Behandler_innen und Begutachteten an Lebensläufe, Indikationskriterien, Rollenerwartungen, Sexualität, Passing und viele weitere Faktoren, die mit „richtig“ und „falsch“ gelabelt werden. Es gibt einen bewussten und unbewussten Druck, dem binären System zu entsprechen, obwohl das möglicherweise gar nicht passend ist.

Die Grundlage für die binären Setzungen der mds-Richtlinie in zwei Geschlechter ist das „Identitätsmodell“ des Geschlechts. Der Identitätsansatz trennt zwischen körperlichem Geschlecht (sex) und psychosozialem Geschlecht (gender) und führt direkt zur weit verbreiteten Idee von einem „Geschlechtswechsel“ im Zusammenhang mit trans. Das psychosoziale Geschlecht, die Geschlechtsidentität passe nicht zum körperlichen oder biologischen Geschlecht und deshalb müsse der Körper „angeglichen“ werden, das Geschlecht wird gewechselt.

Die „Geschlechtsidentität“ ist das subjektive Gefühl eines Menschen, sich weiblich, männlich oder anders zu erleben. Sie entsteht als viele Jahre andauernder Entwicklungsprozess, bis über die Pubertät hinaus. Die „Identität“ wird abgegrenzt von der „Geschlechtsrolle“. Das ist die Gesamtheit der kulturell erwarteten, als angemessen betrachteten und zugeschriebenen Fähigkeiten, Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen.

Es gibt 4 Ebenen der Geschlechtsentwicklung: psychisches Geschlecht (gender identity), soziales Geschlecht (role), körperliches Geschlecht (sex) und den kulturellen Kontext.

Die psychosoziale Geschlechtsentwicklung wird gekennzeichnet durch:
1. Geschlechtsidentität (gender identity)
2. Geschlechtsrolle (gender role)
3. Sexuelle Orientierung (sexual orientation)
die zusammen als psychosexuelle Trias bezeichnet werden.

Der Identitätsansatz und die daraus resultierende Binarität der Geschlechter ist in ihrem Bestehen eine Herrschaftsstruktur (Berliner, 2022), die trans Menschen durch ihre Existenz und Performanz infrage stellen. Um dem zu begegnen konstruiert der Ansatz eine scheinbar wertfreie biologische Essenz der Kategorie Geschlecht, die sich von einer „Identität“ abgrenzen lässt. Er definiert ein biologisches Geschlecht, das getrennt von Gesellschaft betrachtet werden kann. Das scheinbar wissenschaftliche Wissen vom biologischen Geschlecht und seiner Existenz wird aber in der patriarchalen Herrschaftsstruktur Geschlecht produziert. Der Identitätsansatz liefert unkritisch den ideologischen Grundstein für politische, religiöse und biologistische Transfeindlichkeit.

Er gibt trans Menschen eine Scheinexistenz, sie dürfen existieren, aber nicht in dem Sinne, dass es sie wirklich gibt. Sie dürfen auf einer kulturellen Ebene ihre „Identität wählen“ ohne dabei jedoch biologisch zu existieren. Der trans Körper wird auf seine kulturelle Repräsentation beschränkt, phys(iolog)isch existieren darf er nicht“ (Berliner, 2022). Trans Menschen scheinen die einzigen zu sein, die eine „Geschlechts“-Identität wählen. Cis Personen werden normalisiert und ihre bewusste oder unbewusste körperliche Performanz von Geschlecht verleugnet.

Was Frau und Mann sind, wird von der Kultur bestimmt und automatisch auf das Subjekt projiziert. Wer das negiert, führt einen Kampf um den Erhalt der Herrschaftsstruktur Geschlecht. Der Identitätsansatz verfolgt eine scheinbare Sachlichkeit und liefert im Kern eine Begründung, die sich gegen die materielle und damit auch biologische Existenz von trans Menschen richtet. Im Grunde leugnet er durch seine Setzungen, Definitionen und Benennungen unser sein und setzt das durch.

Geschlecht ist ein mehrdimensionaler geschlechtlicher Raum, deren Dimensionen wir heute noch nicht alle kennen und der sich deshalb nicht auf eine Binarität reduzieren lässt (Serano, 2007). Er wird mindestens durch 10 Faktoren determiniert: genetisches Geschlecht, chromosomales Geschlecht, hormonelles Geschlecht, zelluläres Geschlecht, körperliches Geschlecht, durch Umweltfaktoren, psychische Faktoren, kulturelle Faktoren, Herrschaftsfaktoren und uns noch unbekannte Faktoren. Diese Faktoren beeinflussen das Geschlecht durch gemeinsame Existenz oder durch Interaktion. Als Ergebnis entsteht ein multidimensionaler geschlechtlicher Raum, in dem (trans)geschlechtliche Körper als Realität existieren. Die mit dem Identitätsansatz einhergehende Idee eines „gegengeschlechtlichen“ Körpers ist deshalb zu verwerfen und die damit verbundene Vorstellung einer „Geschlechtsumwandlung“ als hinfällig anzusehen.

Jedes Individuum wird mit einem eigenen Geschlecht geboren. Die Wahrnehmung und Interpretation der eigenen Geschlechtlichkeit ist damit ein höchst privater Prozess und seine Interpretation bleibt allein der eigenen Selbstbestimmung vorbehalten.

Literaturverzeichnis

Berliner, N. (29. 11 2022). @al_berlini. Abgerufen am 05. 12 2022 von Twitter: https://twitter.com/al_berlini/status/1597595180936626182

Serano, J. (2007). Whipping Girl: A Transsexual Woman on Sexism and the Scapegoating of Femininity. Seal Press.

Dieser Beitrag wurde unter Queer abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar