Es gibt eine neue Begutachtungsanleitung, Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach § 282 SGB V, Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0), (mds Richtlinie vom 31. August 2020).
Die neue mds Richtlinie verbessert die Situation, weil die psychiatrische Zweitsicht wegfällt und die Rolle der Psychotherapeuten gestärkt ist, da sie jetzt alleine die Begutachtung durchführen können. Darüber hinaus wird in der Richtlinie die alte 18 monatige Fristenreglung für Fälle die ab Inkrafttreten im November begonnen wurden (!) aufgehoben, nur für diese gibt es faktisch nur noch eine 6 Monatsfrist.
Die Begutachtungsanleitung ist nur für die Medizinischen Dienste, die Krankenkassen und deren Verbände verbindlich, wenn eine Kostenerstattung notwendig ist. Behandlungen ohne MDK Begutachtung, fallen nicht unter diese Richtlinie, hier gilt weiterhin die S3 Leitlinie von 2018. [7]
Ärgerlich ist der unnötige Zwang in die Binarität der Geschlechter, das produziert „Regretter“ geradezu. Außerdem widerspricht die Richtlinie damit dem Stand höchstrichterlicher Rechtsprechung. [1][8] [9]
Diagnose (S.13-14)
1. Die transsexuelle Identität muss mindestens zwei Jahre durchgehend bestanden haben.
2. Sie darf kein Symptom einer anderen psychischen Störung, wie z.B. einer Schizophrenie, sein.
3. Ein Zusammenhang mit intersexuellen, genetischen oder geschlechtschromosomalen Anomalien muss ausgeschlossen sein.
4. Bei non-binärer Geschlechtsidentität besteht kein Transsexualismus i.S. dieser BGA. [1]
Psychiatrische/psychotherapeutische Behandlung (S. 16ff) [3]
Indikation für geschlechtsangleichende Maßnahme erfolgt in zwei Schritten:
1. eine psychiatrische oder psychotherapeutische Indikationsstellung (1 Gutachten – keine zwingende Zweitsicht mehr!)(S. 23)
2. die somatisch-ärztliche Indikationsstellung durch die Ärztin/den Arzt, die/der die Maßnahme durchführen soll.(S. 24) [4]
1. Mindestens eine Kurzzeittherapie von 12 Sitzungen á 50 Minuten in mindestens 6 Monaten, inklusive der Diagnostik. Neben einer Richtlinien-Psychotherapie können auch andere Behandlungssettings in Frage kommen.(S. 21)
2. Erklären, ob komorbiden psychischen Störungen vorliegen und mit welchen Maßnahmen und welchem Therapieergebnis diese behandelt wurden.
3. Bei genitalangleichenden Operationen mindestens 12 Monate therapeutisch begleitete Alltagserfahrungen. Abweichungen davon müssen von den Behandelnden begründet werden.
4. Andere geschlechtsangleichende Maßnahmen, z.B. bei Hormonbehandlung oder Mastektomie, können schon zu einem früheren Zeitpunkt der 12 Monate therapeutisch begleiteten Alltagserfahrungen erforderlich sein (S. 22), aber mind. 6 Monate Therapie!
5. Die Therapie kann länger als 6 Monate dauern, denn über welchen Zeitraum und in welcher Frequenz Versicherte sich zur Sicherung der Diagnose und Ausschluss bzw. Stabilisierung von Komorbiditäten bei Behandelnden vorstellen, liegt im Ermessen und in der Verantwortung der Behandelnden (S.22). [6]
6. Erfolgt die Diagnosestellung durch einen Psychologischen Psychotherapeuten, kann für die sozialmedizinische Begutachtung ein ergänzender psychiatrischer Konsiliarbericht erforderlich sein (Zweitsicht zum Ausschluss einer organisch bedingten psychischen Störung) (S. 33).
Zugelassene Behandlungen (S. 25ff)
Arzneimitteltherapie (gegengeschlechtliche Hormonbehandlung) (S.26) [5] [7]
1. Die transsexuelle Identität muss mindestens zwei Jahre durchgehend bestehen
2. Kurzzeittherapie von 12 Sitzungen á 50 Minuten in mind. 6 Monaten und vorbestehende Komorbiditäten müssen adäquat behandelt sein (vgl. S. 16 u. S. 22).
3. Umfangreiches Screening auf etwaige Risikofaktoren und die Therapie und die Bestimmung der Frequenz der Kontrollen sollte durch eine/n endokrinologisch erfahrene/n Ärztin/ Arzt durchgeführt werden.
Mastektomie
1. Die transsexuelle Identität muss mindestens zwei Jahre durchgehend bestehen
2. psychiatrische oder psychotherapeutische Indikationsstellung (Gutachten) nach Kurzzeittherapie von 12 Sitzungen á 50 Minuten in mind. 6 Monaten.
3. somatisch-ärztliche Indikationsstellung durch Chirurg_in
Genitalangleichende operative Maßnahmen
1. Die transsexuelle Identität muss mindestens zwei Jahre durchgehend bestehen
2. mindestens 12 Monate therapeutisch begleitete Alltagserfahrungen
3. psychiatrische oder psychotherapeutische Indikationsstellung (Gutachten) nach Kurzzeittherapie von 12 Sitzungen á 50 Minuten in mind. 6 Monaten.
4. somatisch-ärztliche Indikationsstellung durch Chirurg_in
Epilationsbehandlung (S. 27)
1. Nadelepilation und Laserepilation nur als vertragsärztliche Versorgung.
2. psychiatrische oder psychotherapeutische Indikationsstellung (Gutachten) nach Kurzzeittherapie von 12 Sitzungen á 50 Minuten in mind. 6 Monaten.
3. Hormonbehandlung muss nicht mehr nachgewiesen werden
Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie
1. verordnet von Ärztin (Hausärztin) mit ICD-10 Code R49, kann mit F64 (Transsexualität) ergänzt werden, F64 reicht alleine nicht.
2. zugelassene Stimm-, Sprech- und Sprachtherapeuten
3. 1. Verordnung 10 Therapiesitzungen á 45min und eine Eigenbeteiligung von 75,16€. 2. hat gleich viele Stunden, kostet 65,60€.
Mammaaugmentation bei Mann-zu-Frau
1. kein ausreichendes Brustwachstum mit mindestens Körbchengröße A
2. mindestens 2 Jahre Östrogentherapie
Weitere geschlechtsangleichenden Maßnahmen
Kehlkopfreduktion
operative Stimmlagenkorrektur
Rippenresektion
Gesichtsfeminisierung
1. klären, ob eine deutliche Annäherung an das gewünschte Geschlecht erreicht wurde
2. Abgrenzung zu kosmetischen Leistungen
3. Gleichbehandlungsgebot ist fachspezifisch zu bewerten.
(postoperativ) erforderliche Hilfsmitteln
Hilfsmittel zur Narbenkompression nach Mastektomie
Brustbandagen / Brustgürtel nach Brustaufbau
1. erfolgt nach den Kriterien der Hilfsmittel-Richtlinie
Penis-Hoden-Epithesen
1. sozialmedizinische Prüfung im Einzelfall
Haarersatz/Perücken
1. wenn aufgrund des ursprünglich männlichen Haarwuchses kein weibliches Erscheinungsbild erzielt werden kann
Transitionswunsch wegtherapieren?
In der Richtlinie wird wenig versteckt Konversionstherapie mit trans Menschen eingefordert: (S. 19)
„Psychiatrische und psychotherapeutische Mittel werden nicht eingesetzt, um die Geschlechtsidentität einer Person zu ändern.“
Aber….
„Im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung ist in Bezug auf den krankheitswertigen Leidensdruck zu prüfen, ob psychiatrische und psychotherapeutische Mittel zur Behandlung des krankheitswertigen Leidensdrucks ausgeschöpft wurden. Hierbei sollten auch alternative Optionen zu operativen Maßnahmen berücksichtigt werden. Es kann auch sein, dass sich Betroffene dafür entscheiden, eine Transition nicht weiter zu verfolgen. … so sei es mit Hilfe von Psychotherapie möglich, dass es einigen Betroffenen gelinge, ihre trans- oder gegengeschlechtlichen Gefühle in ihr biologisches Geschlecht zu integrieren, so dass sie nicht das Bedürfnis hätten, ihren Körper zu feminisieren oder zu maskulinisieren.“ [2][9]
Anmerkungen:
1.) Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshof (BGH) vom 22.04.2020 (BGH XII ZB 383/19) zum §45b PStG wurde klargestellt, dass über das TSG auch die Streichung des Geschlechtseintrags bzw. eine Änderung zu „divers“ möglich ist. Damit ist höchstrichterlich die Existenz von nicht-binären trans* Personen anerkannt.
2.) Nach dem „Gesetz zum Schutz vor Konversionsbehandlungen“ von 2020 sind „am Menschen durchgeführte Behandlungen, die auf die Veränderung oder Unterdrückung der sexuellen Orientierung oder der selbstempfundenen geschlechtlichen Identität gerichtet sind“ verboten. Allerdings ist der Begriff der Behandlung positiv konnotiert und suggeriert ein Heilungsversprechen und ein erreichbares Behandlungsziel. Es bleibt unklar, ob Maßnahmen darunterfallen, die nicht unmittelbar physisch eingreifen, wie z.B. Exorzismus oder psychische Manipulationen. Diese Schutzlücke gilt auch für Angebote an Minderjährige! (vgl. respekt! Zeitschrift für Lesben- und Schwulenpolitik, Heft 27, 02.2021, S. 11)
3.) Zur psychotherapeutischen Indikationsstellung (S. 19)
„Um adäquat einschätzen zu können, ob der krankheitswertige Leidensdruck durch psychiatrische und psychotherapeutische Mittel ausreichend gelindert werden konnte, ist aus sozialmedizinischer Sicht ein ausreichend langer Behandlungszeitraum erforderlich. Nach der PT-RL umfasst die kürzeste strukturierte Behandlungsmaßnahme eine Kurzzeittherapie von 12 Sitzungen á 50 Minuten (ggf. auch 24 Sitzungen á 25 Minuten). In Bezug auf den zeitlichen Umfang psychiatrischer und psychotherapeutischer Mittel zur Behandlung des krankheitswertigen Leidensdruckes wird dieser Umfang einer KZT als mindestens erforderlich angesehen, um zu klären, dass der krankheitswertige Leidensdruck durch psychiatrische und psychotherapeutische Mittel nicht ausreichend gelindert werden konnte.
Bei der Behandlung des krankheitswertigen Leidensdruckes mit psychiatrischen und psychotherapeutischen Mittel soll daher inklusive der Diagnostik ein Zeitraum von sechs Monaten nicht unterschritten werden.“
4.) Zur somatisch-ärztliche Indikationsstellung (S. 24 u. S.26)
„Die somatische Indikationsstellung für eine Hormonbehandlung oder für einen chirurgischen Eingriff stellt letztverantwortlich ausschließlich die Ärztin/der Arzt, die/der die Maßnahme durchführt.“
„Vor Einleitung der (Hormon)-Therapie ist daher nach Meyer & Bojunga (2012) ein umfangreiches Screening auf etwaige Risikofaktoren empfehlenswert. Vorbestehende Komorbiditäten müssen adäquat behandelt sein. Die Therapie und die Bestimmung der Frequenz der Kontrollen sollte durch eine/n endokrinologisch erfahrene/n Ärztin/ Arzt durchgeführt werden.“
5.) Alltagserfahrungen stehen im Zusammenhang mit der GaOP, die Hormontherapie fällt nicht unter die 12 Monate Alltagserfahrung (S.21):„Aus sozialmedizinischer Sicht wird daher vor geschlechtsangleichenden Maßnahmen i.d.R. eine therapeutisch begleitete Alltagserfahrung in der angestrebten Geschlechtsrolle kontinuierlich und in allen Lebensbereichen über einen ausreichend langen Zeitraum als erforderlich angesehen. Bezugnehmend auf die SoC 2012 ist bei genitalangleichenden Operationen i.d.R. ein Zeitraum von mindestens 12 Monaten für die Alltagserfahrungen zu fordern, um eine voll informierte soziale und medizinische Transition zu ermöglichen und das Risiko für Bedauern („regrets“) und Retransitionen zu minimieren. Abweichungen davon müssen von den Behandelnden begründet werden.“
6.) Abweichungen von den 6 Monaten und den 12 Sitzungen sind länger möglich (S.22):
„Weitere geschlechtsangleichende Maßnahmen, z.B. Epilationsbehandlung, Hormonbehandlung oder Mastektomie, können nach Abschluss der sechsmonatigen Diagnostik- und Behandlungsphase schon zu einem früheren Zeitpunkt der Alltagserfahrungen erforderlich sein. Dies muss im jeweiligen Einzelfall von den Behandelnden begründet werden.“
„Auf der Basis der aktuellen Diagnosekriterien für Transsexualismus im Zusammenhang mit der Leistungsgewährung geschlechtsangleichender Maßnahmen ist es für die Begutachtung notwendig, dass die Diagnose und deren Konstanz gesichert ist und relevante psychische und somatische Komorbiditäten ausgeschlossen bzw. stabilisiert wurden. Über welchen Zeitraum und in welcher Frequenz Versicherte sich zur Sicherung der Diagnose und Ausschluss bzw. Stabilisierung von Komorbiditäten bei Behandelnden vorstellen, liegt im Ermessen und in der Verantwortung der Behandelnden.“
7.) Hormone werden auf Grundlage der ärztlichen Therapiefreiheit, und der S3 Leitlinie, nach einer psychologischen Indikation, endokrinologisch verschrieben. Nach der ärztlichen Therapiefreiheit haben Ärzt_innen die Freiheit, unter medizinischen Gesichtspunkten selbstständig und frei von äußeren Weisungen über die im Einzelfall erforderliche Behandlung zu entscheiden.
Die Therapiefreiheit umfasst drei Elemente:
1. Entscheiden, ob überhaupt eine Behandlung stattfinden soll.
2. Entscheiden über die diagnostischen und therapeutischen Methoden (Methodenwahl).
3. die Ärzt_in kann nicht zu einer Behandlungsmethode oder zu einer bestimmten Arzneimitteltherapie gezwungen werden.
Die Ärztin kann auch nicht durch eine psychologische Indikation zur Hormonbehandlung gezwungen werden. Auch die Kasse ist nicht gezwungen, Zahlungen zu leisten. Sie kann sich auf die mds-Richtlinie zurück ziehen.
Die Therapiefreiheit steht innerhalb des fachärztlichen Standards der S3 Leitlinie. Im Einverständnis mit der Patient_in darf die Ärzt_in jenseits des fachärztlichen Standards einen Heilversuch unternehmen.
Die ärztliche Therapiefreiheit ist nicht ausdrücklich normiert.
Die grundgesetzliche Berufsausübungsfreiheit aus Art. 12 I GG umfasst bei Ärztinnen die therapeutische Eigenverantwortlichkeit und die Unabhängigkeit gegenüber fachlichen Weisungen.
§1II 2.Halbs. Bundesärzteordnung stellt fest: „Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe, er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.“
Die Therapiefreiheit ist in dieser Weise auch in den Berufsordnungen der Länder festgeschrieben und wird als Wesensmerkmal der ärztlichen Freiberuflichkeit begriffen. (Silvia Tomassone/Tim Wöffen*, Leitlinienmedizin und ärztliche Therapiefreiheit)
8.) „Die neue Krankenkassen-Richtlinie widerspricht wesentlichen wissenschaftlichen Empfehlungen zur Beratung und Behandlung von transsexuellen Menschen. Sie verletzt deren Recht auf Selbstbestimmung und den Grundsatz partizipativer Entscheidung vor einer Behandlung.“, Dr. Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), BPtK fordert Rücknahme der Krankenkassen-Richtlinie, April 2021
9.) Stellungnahme der die AWMF S3-Leitlinie verantwortenden wissenschaftlich- medizinischen Fachgesellschaften zur Begutachtungsanleitung (Richtlinie des GKV-Spitzenverbandes nach § 282 SGB V) Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus (ICD-10, F64.0) … „Zusammenfassend ist aus unserer Sicht eine Behandlung, die der neuen BGA folgt, weder mit dem aktuellen Fachwissen noch berufsethischen Grundsätzen vereinbar.“, April 2021