Geschlechter- und Altersverteilung bei Transsexualität 2019

Dieser Artikel ist nicht aktuell, der aktuelle Stand ist hier zu finden.

Es gibt kaum valide Zahlen über die Geschlechter- und Altersverteilung von Transsexuellen in Deutschland. In Teilen der transkritischen Öffentlichkeit wird darüber spekuliert, dass bei der Geburt weiblich einsortierte Menschen (afab) früher mit der Transition beginnen, als männlich einsortierte (amab). Tatsächlich gibt es messbare geschlechtsspezifische Unterschiede bei Transsexuellen, die sich zudem in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert haben.

Inneres  Comming Out

Beim inneren Comming Out, also dem Alter der Bewusstwerdung der eigenen Transsexualität, sind die Unterschiede sehr gering. Gut 1/3 aller trans Menschen wissen vor dem 10ten Lebensjahr, dass sie trans sind (afab 32%, amab 34%). Das Durchschnittsalter der trans Männer lag mit 14,3 Jahren um 1,5 Jahren vor den trans Frauen, denen mit 15,8 Jahren klar wurde, dass sie trans waren. Bis zum 20ten Lebensjahr wissen es 79% der Männer und 75% der Frauen. Die trans Mädchen liegen in der Bewusstwerdung in der Kindheit leicht vor den trans Jungen, während sie im Alter etwas später dran sind. Das entscheidende Alter für das innere Comming Out ist ohne Zweifel die Pubertät.

Es gibt also eine Indikation dahingehend, dass weiblich einsortierte Menschen keinen gravierenden aber einen messbar besseren Zugang zu ihrer Geschlechtlichkeit haben. Transsexualität kann grundsätzlich in jedem Alter wahrgenommen werden. Es gibt tatsächlich einen Höhepunkt mit Einsetzen der Pubertät, danach flacht die Kurve bis ins hohe Alter ab, geht aber nie auf null.

Transition

Mehr als 3/4 aller Transsexuellen wissen vor dem 20ten Lebensjahr, dass sie trans sind. Viele versuchen eine lange Zeit, sich mit ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zu arrangieren. Medizinische Maßnahmen zur Transition sind in Deutschland nur schwer zu bekommen. Es gibt sehr begrenzte Behandlungskapazitäten mit Wartezeiten über viele Monate. Jugendliche bekommen Hormone regelhaft frühestens ab 16 Jahren Alter und nur nach Vorlage von zwei Indikationen, davon muss eine psychiatrisch sein. Für operative Maßnahmen liegen die Schwellen noch höher, dafür werden zwei Gutachten benötigt und es sind zahlreiche weitere Bedingungen zu erfüllen.

Eine niedrigschwellige Maßnahme ist die Beschaffung des dgti-Ergänzungsausweises, der ein vom Bundesinnenministerium anerkanntes Personalpapier ist, das mit der eigenen geschlechtlichen Verortung überein stimmt. Eine weitere niedrigschwellige Massnahme ist das Aufsuchen einer Beratungsstelle. In einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti) sind die aktuellsten Zahlen zur Antragsstellung aus dem Jahr 2016 (1). Im  Jahresbericht 2019 hat die Hamburger Beratungsstelle 4Be TransSuchtHilfe Zahlen zur Geschlechter- und Altersverteilung vorgelegt.

trans Jungen

Vor dem 18. Lebensjahr haben sich 29% der trans Männer einen Ergänzungsausweis bestellt. Eine Beratungsstelle haben erst 14% der Jungen (afab) aufgesucht. Der jüngste Klient in der Beratung war ein Junge mit 13 Jahren und der Altersdurchschnitt lag bei den Männern bei 26,4 Jahren. Für das Jahr 2016 lag der Altersdurchschnitt beim Ergänzungsausweis bei 24,5 Jahren und in der Seikowksi Studie bei 26,4 Jahren, gezählt von 1988 bis 2015 (4). Obwohl 79% der Jungen wissen, das sie trans sind, werden überwiegend Maßnahmen zur Hilfe erst im erwachsenen Alter gesucht. Die wichtigste Zeitspanne ist bis zum 25ten Lebensjahr, danach flacht die Kurve deutlich ab.

trans Mädchen

Die Altersstruktur offenbart signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede. Vor der Pubertät erkennen mehr Mädchen (35%) als Jungen (32%) , dass sie trans sind. Das findet sich auch beim Ergänzungsausweis, den sich eher Mädchen (3%) als Jungen (1%) in dieser Zeitspanne bis 9 Jahren holen. Mit Einsetzen der Pubertät ist der Unterschied so gravierend, dass er zu einer heftigen öffentlichen Diskussion führte. In der Beratung waren die ältesten Klientinnen zwei 65 jährige Frauen. Der Altersdurchschnitt lag bei den Frauen 40,6 Jahren, beim Ergänzungsausweis für das Jahr 2016 beträgt er 37,9 und bei einer Untersuchung von Seikowski lag der Schnitt bei 35,5 Jahren (4). Bei den unter 24 Jährigen beträgt der Anteil der trans Männer 68%, bei den über 24 Jährigen liegt der Anteil der trans Frauen bei 56%. Während die absoluten Zahlen gleich auf sind, ist der Anteil an Männern (afab), die früh mit dem Thema trans aktiv sind deutlich größer, als die der Frauen (amab), die deutlich später aktiv sind. 

Geschlechterunterschiede

Während beim inneren Comming Out kaum messbare Geschlechterunterschiede bestehen, gibt es signifikante Geschlechterunterschiede bei den konkreten Schritten zur Transition. Trans Jungen sind in der gesamten Lebensspanne deutlich früher aktiv. Trans Frauen werden erst steigend mit zunehmenden Alter aktiv. Diese Fakten unterstreichen, dass ROGD oder die Haltung von Beratungsstellen keinerlei Einfluss auf das Transitionsverhalten von Transsexuellen haben. Wenn das so wäre, würde es diese gravierenden Abweichungen zwischen den Geschlechtern nicht geben.

Es sind Faktoren, die einer wissenschaftlichen Analyse bedürfen. Es gibt Gründe mit offensichtlichem Charakter und die können benannt werden:
1. Die Pubertät bei afab Jungs setzt deutlich früher ein.
2. Die Folgen der Pubertät für die Jungs sind intensiver, durch das zum Teil erhebliche und schnelle Wachstum der Brust, das Einsetzen der Blutung und die Entwicklung der Hüften.
3. Es ist für afab Jungs eher akzeptiert, männlich konnotierte Kleidung und Haarschnitte zu tragen und wird gesellschaftlich toleriert.
4. Wenn mit Testosteron begonnen wird, setzt eine männliche Pubertät mit Stimmbruch ein, die ein einfacheres Passing ermöglicht.
5. (Trans) Weiblichkeit wird abgewertet und die amab Mädchen sind deutlich mehr Gewalt ausgesetzt.
6. Die Mädchen und Frauen verlieren eher die sozialen und beruflichen Bindungen.
7. Trans Frauen sind stärker von Armut und Obdachlosigkeit bedroht.

Dazu erklärt Julia Monro, verantwortlich bei der dgti für den Egänzungsausweis: „für Transfrauen ist es immer noch uncool sich zu outen. Sie fürchten um ihren sozialen Status, Stichwort Patriarchat. Es ist ein „Abstieg“ Frau zu werden. Deshalb (geschieht es) oft sehr spät. Man erfüllt seine soziale Rolle/Erwartungen (Heirat, Kinder, Karriere), bevor man die Transition beginnt.“
Kurt Seikowski zum gleichen Thema (4, S. 167): „Das ist auch verständlich und nachvollziehbar, da diese Personen (afab) aufgrund der Identifikation durch die bereits in der Kindheit praktizierte männliche Kleidung deutlich weniger Veränderungsversuche unternehmen müssen als die Personen, die als Mann geboren wurden, sich aber wie ein Frau fühlen und meist nur heimlich erste Versuche in der weiblichen Kleidung unternehmen.“

Hormone

Vor dem 15 Lebensjahr beginnt nur eine extreme Minderheit von trans Menschen mit medizinischen Maßnahmen. Es sind 2,5% trans Jungen und 0,7% der trans Mädchen. Vor dem 18. Lebensjahr sind es 12% der Jungen und 5,7% der Mädchen. Noch deutlicher wird es am durchschnittlichen Transitionsbeginn. Männer beginnen im Schnitt erst im Alter von 24,9 Jahren mit der Hormonsubstitution, die Frauen erst mit 32,7 Jahren. Der Abstand zwischen den Geschlechtern wächst von 1,5 auf ganze 7,8 Jahre Verzögerung. Zwischen der Erkenntnis der Transsexualität und dem Ergreifen von Hilfemaßnahmen vergehen bei den Männern (afab) 10,6 und bei den Frauen (amab) 16,9 Jahre.

abinär

Wenn hier von Abinarität gesprochen wird, ist das ein Vereinfachung gegenüber dem tatsächlichen und komplexen geschlechtlichen Raum. Das geschlechtliche Spektrum ist weit aufgefächerter. Die meistens Menschen orientieren sich am binären Geschlechtersystem. Sowohl beim Ergänzungsausweis, als auch in der Beratung lag ihr Anteil bei über 85%. Obwohl in der Beratung faktisch Offenheit praktiziert wird, neigen abinäre Menschen dazu, sich im persönlichen Kontext binär einzusortieren. Überraschend war, dass der Begriff „Transident“ bei keinem unserer Klient_innen als Selbstbezeichnung auftauchte. Stattdessen wird überwiegend als Selbstbezeichnung der Begriff „Transgender“ und in ganz geringem Umfang „Transsexuell“ verwendet.

Der Anteil der Ergänzungsausweise für Menschen, die sich als nicht binär begreifen liegt nach internen Zählungen der dgti e. V. (5/2017-12/2018) bei 11,5%. Der Anteil von nicht binären liegt in der Beratungsstelle insgesamt mit 13% etwas höher. Nach einer Befragung im Internet aus dem Jahr 2020 lag der Anteil bei 22,2% bei einem N=1240.

detrans

Detransition ist ein wichtiges Thema, das leider viel zu oft mit „richtig oder falsch“ und binären Dogmen in Zusammenhang gebracht wird. Der Weg zum eigenen Geschlecht ist selten geradlinig, sondern für die meisten trans mit Irrungen, Versuchen und Umwegen verbunden.

Die Beratung ist expliziert detrans inkludierend und das Thema Detransition wurde in der Beratung besonders berücksichtigt. Also wie häufig das Anliegen war, die Geschlechtsangleichung oder Teile davon rückgängig zu machen. Transition wird hier nicht als geradlinigen Prozess verstanden. Abbrüche und Pausen sind ausdrücklich erwünscht, denn nichts ist fataler, als wenn von therapeutischer Seite binäre Transitionen eingefordert und forciert werden.

Insgesamt haben 3 Klient_innen, über eine binäre Detransition gesprochen, also die Angleichung vollständig rückgängig machen zu wollen. Bei keinem Fall ist es dazu gekommen, bzw. sind konkrete Schritte innerhalb der Beratung aufgenommen worden. Bei 4 Klient_innen aus dem weiblichen Spektrum war eine nichtbinäre Detransition Thema. Das bedeutet, dass Teile der Transition gestoppt oder rückgängig gemacht wurden. Über alle Klient_innen haben sich 6% mit dem Thema Detrans an uns gewandt, allerdings nicht, wie öffentlich diskutiert, aus dem männlichen Spektrum, sondern zu 71% aus dem weiblichen Spektrum.

Übrigens verdoppelt sich das Suizidrisko für detrans, wenn sie wieder in ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht leben. Die Rate von Suizidversuchen in der 12 Monatsprävalenz erhöht sich auf fast 12 Prozent, verglichen mit 6,7 Prozent derjenigen, die keine „De-Transition“ durchgeführt haben und erhöht sich damit auf den Wert vor der Transition (2).

  1. „Es werden immer mehr …!“ Zur Situation transidenter/transsexueller Menschen in Deutschland: Dokumentation Ergänzungsausweisund Bestandsanalyse über den Zeitraum von 1999-2016, Stefanie Schaaf, 2019, Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V. (dgti)
  2. Suicide Thoughts and Attempts Among Transgender Adults in the US, Transgender Survey, September 2019, Jody L. Herman, Taylor N.T. Brown, Ann P. Haas, The Williams Institute, UCLA School of Law, Seite 2
  3. AUSWIRKUNGEN DER COVID-19-PANDEMIE AUF TRANS* MENSCHEN IN EUTSCHSPRACHIGEN LÄNDERN, VORLÄUFIGE ERGEBNISSE DER TRANSCARECOVID-19-STUDIE (www.transcareCovid-19.com), Andreas Köhler, Annette Güldenring, Joz Motmans, Timo O. Nieder, Mai 2020
  4. Kurt Seikowski „Das Problem der Psychopathologisierung von Transsexualität“, Studie von 1988 bis 2015, N=1234 in Das Geschlecht in mir: Neurowissenschaftliche, lebensweltliche und theologische Beiträge zu Transsexualität, Gerhard Schreiber (Herausgeber), Mai 2019

 

Dieser Beitrag wurde unter Politik, Queer abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar