Differentialdiagnostik bei Kaufsucht

Obwohl sich alle sechs ICD -10 Diagnosekriterien zur Klassifikation von Sucht im pathologischen Kaufen wiederfinden, wird dieses nicht als solche Sucht bzw. Krankheit vom Hilfesystem anerkannt. Betroffene erfahren insofern keine adäquate Behandlung ihrer Erkrankung. Im Gegenteil, in einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft wird belohnt, wer konsumiert. Die Folge ist, dass die Verschuldungsraten 2016 im bundesweiten Durchschnitt zum dritten Mal in Folge spürbar anstiegen. Nach Angaben des Inkassounternehmens Creditreform betrug die durchschnittliche Überschuldung knapp 35.000 Euro pro Person. Davon betroffen waren 6,8 Millionen volljährige Personen und die Überschuldungsquote stieg auf 10,06 Prozent. In Hamburg liegt diese bei über 10% und liegt damit im bundesweiten Mittelfeld. Als stark überschuldet gelten Menschen, die durch ihre Schulden juristisch in Erscheinung getreten sind und wiederholt ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen konnten.

Nach einer Veröffentlichung des American Journal of Psychiatry sind 6 Prozent aller Frauen von pathologischer Kauflust betroffen und 5,8 Prozent der Männer. Dies auf Hamburg umgerechnet bedeutet, dass 48.000 Frauen und 46.000 Männer, insgesamt 92.000 Menschen kaufsüchtig sind. Wird nur eine durchschnittliche Kinderzahl in den Familien zugrunde gelegt, sind allein 14.000 Kinder mit betroffen.

Obwohl es nach den aktuellen Erhebungen nach keinen signifikanten Geschlechterunterschied bei der Erkrankung gibt, ist der Anteil von Frauen, die Hilfe suchen deutlich höher. Das liegt vor allem daran, dass Kaufsüchtige als Kriminelle gelten. Deshalb ist die Hemmschwelle, professionelle Hilfen auszusuchen, viel zu hoch. Die Folge ist, dass Frauen nicht selten in der Forensik zusammen mit Sexualstraftätern behandelt werden. Daraus können lange, tiefgreifende innerseelische Kämpfe auf Seiten der Betroffenen entstehen und die Frauen haben einen besonders hohen Leidensdruck. Die geschieht vor dem Hintergrund eines normalen Suchtgeschehens und obgleich eine Therapie mit anerkannten Heilverfahren möglich und wirksam ist. Auch das bei schwerst Abhängigen bewährte „Therapie statt Strafe“ als Chance ist bisher nicht möglich.

Da Gefahr eines inflationären Gebrauches des Begriffs „Sucht“ bestehe, gibt es eine starke Lobby im Gesundheitssystem gegen das Anerkennen von Verhaltenssüchten als Sucht. Aus unserer Sicht ist deshalb die Entwicklung von differentialdiagnostischen Leitkriterien für einen neuen Kaufsuchtbegriff in Abgrenzung zu kriminellen Handlungen dringend notwendig. Folgende Kriterien schlagen wir für eine weiterführende Diskussion vor:

  1. Im ICD müssen Verhaltenssüchte und hier besonders Kaufsucht als Krankheit aufgenommen werden.
  2. Wenn sich drei oder mehr Diagnosekriterien für Sucht feststellen lassen, muss Kaufsucht als Sucht anerkannt werden.
  3. Diagnostizierbarer Entstehungshintergrund sowie auslösende, verstärkende und aufrechterhaltende Bedingungen im Sinnes des funktionalen Bedingungsmodells der Störung müssen vorhanden sein.
  4. Eine Erlangung eines finanziellen Vorteils durch Betrug oder durch Hehlerei ist nicht nachweisbar.
  5. In Wohnung der Betroffenen sind viel Inventar und Konsumgüter auffindbar (es findet kein Weiterverkauf von Diebesgut statt)

Unser Fazit ist, dass Kaufsucht neben psychosozialer Prävention und Beratung der suchttherapeutischen Behandlung bedarf. Es ist zuvor notwendig, Kaufsucht als „Krankheit“, analog stoffgebundener Abhängigkeiten, zu verstehen und anzuerkennen. Darüber hinaus berührt das komplexe Thema Fragen der Konsumgesellschaft als Lebensrealität der Betroffenen, die mitgedacht werden müssen.

Mangelsen, A. & Dr. med. Kellermann, B. & Mertens, C. (2008). Kaufsucht eine Verhaltenssucht. Hamburger Ärzteblatt. 09/2008, 12-15

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